F. Spöring: Mission und Sozialhygiene

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Titel
Mission und Sozialhygiene. Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus, 1886–1939


Autor(en)
Spöring, Francesco
Erschienen
Göttingen 2017: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 39,90
URL
von
Juri Auderset, Archiv für Agrargeschichte, Bern

Der in der Basler Abstinenzbewegung aktive Jurist Eugen Blocher schrieb 1911 im «Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft» nicht ohne Genugtuung, dass die medizinische und wissenschaftliche Betrachtungsweise der Alkoholfrage «von der Schweiz ausgegangen» sei und von hier aus die «neue Epoche im Weltkampfe gegen den Alkohol» eingeläutet worden sei. Man kann dies auf den ersten Blick als selbstakklamierende Übertreibung lesen, allerdings wird nach der Lektüre des sehr lesenswerten Buches von Francesco Spöring auch deutlich, dass die schweizerische Anti-Alkoholbewegung in der Tat ein bedeutender Knotenpunkt im Netz der internationalen Temperenz- und Abstinenzbemühungen war und aus den helvetischen Anti-Alkoholbewegungen wesentliche und international nachhallende Impulse zur Medikalisierung des Alkoholgenusses hervorgegangen sind. Das Erkenntnisinteresse von Spörings an der ETH Zürich entstandener Dissertationsschrift erschöpft sich freilich nicht darin, die schweizerischen Akteure in ihren transnationalen Wirkungsräumen zu verorten; darüber hinaus fragt er auch nach der Präsenz kolonialer Denkmuster und Sprachfiguren im schweizerischen Anti-Alkoholdiskurs und problematisiert die zeitgenössisch bemühten Abgrenzungen zwischen wissenschaftlich und religiös motivierten alkoholgegnerischen Positionen. Damit liefert Spöring sowohl einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Alkoholfrage und der Anti-Alkoholbewegungen als auch zu einer transnationalen Perspektiverweiterung auf die Geschichte der Schweiz im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert.

Im ersten Kapitel des Buches verortet Spöring die Anti-Alkoholakteure der Schweiz im internationalen Kontext. Nach der Schilderung der Formierungsphase alkoholgegnerischer Vereinigungen im 19. Jahrhundert nimmt er einerseits mit der Basler Missionsgesellschaft eine vor allem religiös motivierte alkoholgegnerische Gruppe in den Blick, um dann andererseits anhand der von Auguste Forel und Gustav von Bunge geprägten sozialhygienischen Abstinenzbewegung und des ausführlich thematisierten Guttemplerordens eine ihrem Selbstverständnis nach primär wissenschaftlich motivierte Alkoholgegnerschaft vorzustellen. In einem weiteren Abschnitt geht er auf die Aktivitäten des in Genf ansässigen International Bureau against Alcoholism und dessen Rolle in der 1925 in Genf organisierten Internationalen Konferenz gegen den Alkoholismus ein und verdeutlicht an diesem Beispiel die geografische, soziale und politische Reichweite der alkoholgegnerischen Netzwerke, deren Anliegen es schliesslich gar auf die Agenda des Völkerbundes
schafften.

Nach dieser etwas lang geratenen Verortung der schweizerischen Akteure im internationalen Feld der Anti-Alkoholbewegungen, bei der die Relevanz der detailreichen Ausführungen für die im Zentrum stehenden Fragestellungen nicht immer ganz deutlich wird, folgt der eigentliche analytische Hauptteil der Arbeit. Inspiriert von Jacques Derridas Bemerkungen zur «Rhetorik der Droge» unternimmt Spöring hier den Versuch, die oft mäandrierenden und normativ aufgeladenen alkoholgegnerischen Diskurse in drei strukturelle Analysekategorien zu bündeln, die er als «Rhetorik der Freiheit», «Rhetorik der Natürlichkeit» und «Rhetorik der Wirklichkeit» bezeichnet.

Der in den untersuchten Diskursen omnipräsente Topos der Freiheit wurde in den alkoholgegnerischen «Zivilisierungsmissionen» laut Spöring in den begrifflichen Dichotomien «Innen» und «Aussen», «Mensch» und «Tier» sowie «Leib» und «Geist» verhandelt. Diese diskursiven Rahmungen schufen Parallelen zwischen wissenschaftlichen und religiösen Alkoholgegnern. Beklagten etwa die Basler Missionare im westafrikanischen Kontext die in ihrer Sicht auch vom internationalen Alkoholhandel mitverantwortete «Sklaverei des Schnapstrinkens», die sich insbesondere bei der angeblich willensschwachen und zu Sinnlichkeit neigenden afrikanischen Bevölkerung besonders eklatant auswirke, thematisierten die sozialhygienisch orientierten Repräsentanten die Alkoholsucht als eine «medikalisierte Sklaverei des Geistes». Für die mit der Arbeiterbewegung sympathisierenden Abstinenzbefürworter war Nüchternheit zudem nicht nur mit innerer Selbstbestimmung verbunden, sondern auch mit äusserer politischer Mitbestimmung.

Die Alkoholfrage wurde um die Jahrhundertwende auch vor dem Hintergrund einer ambivalenten, zwischen Degenerationsbefürchtungen und Fortschrittsoptimismus oszillierenden Stimmung verhandelt. In diesem Kontext verortet Spöring die «Rhetorik der Natürlichkeit», mit welcher sowohl szientistische wie religiöse Alkoholgegner ihre Argumente unterfütterten. Dies zeigte sich etwa sowohl in der Assoziierung von «fuselhaltigem Schnaps» mit «Unreinheit», wie auch in der Tendenz zur Biologisierung bestimmter Trinkmuster: Sei es, dass die Basler Mission der afrikanischen Bevölkerung eine genetische Prädisposition zu fehlender Selbstkontrolle zuschrieb, oder sei es, dass die Sozialhygieniker in ihrer Aneignung sozialdarwinistischer Erklärungsmuster auch eugenische Massnahmen wie die Sterilisation Alkoholabhängiger befürworteten. Obwohl der Autor hier ähnlich gelagerte Deutungsmuster ausmacht, kommt er doch zum Schluss, dass biologistische Erklärungen für exzessives Trinkverhalten in der sozialhygienischen Abstinenzbewegung expliziter und öfter artikuliert wurden als dies bei den Basler Missionsvertretern der Fall war.

Dass das Alkoholtrinken und die damit verbundenen sozialen Folgen zusehends in medizinischer Fachsprache verhandelt, mit statistischen Erhebungen gemessen und mit Schaubildern illustriert wurden, thematisiert Spöring als die «Rhetorik der Wirklichkeit». Hier werden Strategien untersucht, mittels welcher die Anti-Alkoholakteure ihre Anschauungen und Überzeugungen als «echt», «wahr» und «authentisch» zu vermitteln versuchten. Am Beispiel des in Ghana wirkenden Missionsarztes Rudolf Fisch und der Blaukreuz-Bewegung wird etwa aufgezeigt, wie sozialhygienische und medizinische Wahrheitsansprüche nicht immer spannungsfrei mit der Bekämpfung von heidnischen Ritualen in Westafrika verbunden wurden. Interessant sind zudem die Konflikte zwischen Abstinenz- und Temperenzbefürwortern innerhalb der Missionsärzteschaft, die in mancherlei Hinsicht alkoholkritische Frontlinien spiegelten, die auch die schweizerischen Kontroversen prägten. Solch strukturelle Ähnlichkeiten arbeitet der Verfasser auch auf anderen Ebenen heraus: Beklagten etwa die Missionsärzte die Rolle von afrikanischen «Fetischpriestern», die ihre Rituale angeblich mit exzessivem Schnapskonsum begleiteten, fand die sozialhygienische Abstinenzbewegung in den tradierten schweizerischen Trinksitten Formen des Alkoholgenusses, die ihr zuweilen nicht minder ritualisiert und fetischhaft erschienen als die kulturellen Bräuche in Westafrika. Aberglaube in Westafrika und Eskapismus in der Schweiz erschienen mitunter als verwandte Formen einer mit Alkohol erwirkten Abkehr vor der «Wirklichkeit».

Abgerundet wird das Buch mit einer Schlussbetrachtung, in der Spöring seine Forschungsergebnisse noch einmal pointiert auf koloniale Denkmuster im schweizerischen Anti-Alkoholdiskurs und auf transnationale Medikalisierungsbestrebungen befragt.

Mit Mission und Sozialhygiene legt Francesco Spöring ein Buch vor, das man auch im Kontext der jüngst angerissenen Debatte über «Colonialism without Colonies» mit Erkenntnisgewinn liest. Am Beispiel des Anti-Alkoholdiskurses wird hier deutlich gemacht, wie koloniale Vorstellungswelten in schweizerische Kontexte einsickerten und wie umgekehrt die «Zivilisierungsmissionen» in Westafrika von Wahrnehmungs- und Deutungskategorien in Bezug auf den Alkoholgenuss geprägt wurden, die mithin in den helvetischen Diskursen über eine rationale Lebensführung entwickelt worden waren. So gelingt es dem Autor, strukturelle Ähnlichkeiten in den Anti-Alkoholdiskursen in der Schweiz und im kolonialen Kontext Westafrikas herauszuarbeiten. Etwas unscharf bleiben in diesem Zusammenhang allerdings die konkreten Bezugnahmen, Aneignungsformen und Funktionalisierungen solch kolonialer Sprachfiguren und Topoi in spezifischen diskursiven und sozialen Kontexten. Es bleibt hier bei der Andeutung, dass diese Formen der Übertragung kolonialer Denkfiguren in den Anti-Alkoholdiskurs der Schweiz die Auseinandersetzungen über die «soziale Frage» verschärft haben könnte, aber dies wird nicht tiefgreifender untersucht. Auch bleibt der Zusammenhang zwischen den beiden von Spöring ins Zentrum gerückten Gesichtspunkten einer «transnationalen Medikalisierung» der Alkoholfrage und der Präsenz kolonialer Denkfiguren im schweizerischen Anti-Alkoholdiskurs unklar. Die beiden Thesen stehen zuweilen etwas unverbunden nebeneinander, ohne dass die konkreten Zusammenhänge und Interdependenzen herausgearbeitet würden. Eine ähnlich gelagerte Problematik lässt sich auch in Bezug auf die räumlichen Konfigurationen der Studie zwischen Westafrika und der Schweiz feststellen. Es entsteht hier der Eindruck, als handele es sich eher um Parallelgeschichten der kritischen Thematisierung des Alkohols als um eine eigentliche Verflechtungsgeschichte, für welche die konkreten transnationalen Zirkulationsbewegungen, Aneignungspraktiken und Verwendungsformen alkoholgegnerischer Topoi empirisch etwas genauer hätten untersucht werden müssen.

Überzeugend ist hingegen die Komposition des Buches, die von den drei angesprochenen «Rhetoriken» getragen wird. Abgesehen von der orientierungsstiftenden Funktion erschliessen diese drei «Rhetoriken» auch heuristische und analytische Potentiale für die Auswertung des vielfältigen alkoholgegnerischen Schrifttums, das neben den ergänzend beigezogenen Archivquellen aus dem Archiv der Basler Mission und dem Archiv des Völkerbundes in Genf den hauptsächlichen Quellenkorpus der Studie bildet. Insbesondere gelingt es dem Verfasser dadurch, die von den zeitgenössischen Akteuren bemühten Abgrenzungsstrategien zwischen religiöser und szientistischer Alkoholkritik zu hinterfragen und gemeinsame Bezugspunkte und normative Werthaltungen herauszuarbeiten. Insbesondere in der «Ethik der Nächstenliebe», der «Askese als Mittel der Selbsterkenntnis» und im «Denken in langfristigen Zeithorizonten» sieht Spöring vergleichbare Leitvisionen, welche quer lagen zu den Abgrenzungsbestrebungen zwischen unterschiedlich motivierten Alkoholgegnern und -gegnerinnen. Insgesamt liefert das Buch einen erfrischenden Blick auf die Geschichte des Anti-Alkoholaktivismus in der Schweiz und erschliesst neue Fragehorizonte einer transnational erweiterten Geschichte der modernen Schweiz.

Zitierweise:
Juri Auderset: Francesco Spöring: Mission und Sozialhygiene. Schweizer Anti-Alkohol-Aktivismus im Kontext von Internationalismus und Kolonialismus, 1886–1939, Göttingen: Wallstein, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 2, 2019, S. 339-341.